I Das surrealistische Manifest
1.1 Zur Aktualität des Surrealismus
Mit dem Ersten Surrealistischen Manifest erschien vor hundert Jahren das bahnbrechende Dokument einer Bewegung, die »das Leben verändern« und »die Welt verwandeln« wollte. Das traumatische Ereignis des Ersten Weltkriegs ähnelt dem, was Lacan das »Reale« nennt, eine anhaltende, aber im Grunde nicht darstellbare Dimension der menschlichen Erfahrung, die als »apokalyptisches Narrativ« wiederkehrt: Die Welt hat keinen Sinn, sie steht kurz vor dem Untergang! Das war schon das Erzählmuster jener jungen Leute, die aus dem Krieg »zornig nach Hause kehrten, um die alte Welt aus den Angeln zu heben«. Und es ist die Narration aller, die an den Krisen der Gegenwart verzweifeln.
Naomi Klein weist in Shock Doctrine (2007) darauf hin, dass der Kapitalismus die Folgen von Katastrophen schon immer genutzt habe, um Schocks einzusetzen, mit denen die Welt verändert werden kann. Das erste Jahrzehnt des 21. Jhrts. sei eine besonders lügenanfällige Zeit gewesen, in der Fakes besonders katastrophale Auswirkungen hatten. Man fühlt sich zurückversetzt in die Anfänge des Surrealismus: Dessen Vertreter setzten auf Schockeffekte und lancierten ihre Hasstiraden gegen das in ihren Augen verlogene Bürgertum.
In Compulsive Beauty (1995) behauptet Hal Foster, sie hätten den »irrationalen Rest« des rationalen kapitalistischen Produktionsprozesses verwendet, um den modernen Rationalismus zu unterminieren. Im »automatischen Schreiben« der Surrealisten findet Foster das kritische Potenzial für eine Parodie auf den Automatismus der Produktion. In der spätmodernen Welt stoßen die unheimlichen Hybride des Surrealismus allerdings an ihre Grenzen, weil »das Reale zum Surrealen« geworden sei. Foster fragt sich, ob »unser Wald von Symbolen weniger störend in seiner Unheimlichkeit als disziplinierend in seinem Delirium« sei. Der Surrealismus ist heute eine alltägliche Erfahrung. Rob Horning sieht die Ursache dafür in der Künstlichen Intelligenz, die den spekulativen Gedanken des Surrealismus habe real werden lassen:
»The rapid cultural rise of the algorithm —in its vernacular sense of connoting an oracular technological deity—testifies to the success of the Surrealist revolution that Breton never tired of promising.«
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Surrealismus und Parafiction
Die Kunsthistorikerin Carrie Lambert-Beatty schlägt mit ihrem Konzept der »Parafiction« eine neue Perspektive ein. Zuerst sah sie darin eine Reaktion auf die »culture of fake«, dann erweiterte sie die Bedeutung des Konzepts:
»But now I think it has been part of this thing we call »contemporary art« from the beginning. That leads me to describe it differently: parafiction is the way contemporary art takes on the epistemic dimensions of the transformative crises of this period.«
Die Krisen der Gegenwart, die rasante Digitalisierung und der allgemeine gesellschaftspolitische Wandel haben eine Nachfrage und Erwartung nach alternativen Rahmen geschaffen, um die Welt zu verstehen. Viele behaupten, gegenwärtig gebe es eine seismische Verschiebung hin zu einer Ära der Post-Wahrheit und Post-Politik. Parafiction reagiert darauf. Sie implementiert unkonventionelle Methoden, nutzt Fiktionen und gibt sie anschließend als Fakten aus. Von Fakten ausgehend produziert sie erfundene Welten, wo stets unsicher bleibt, inwiefern die Fiktion von den Fakten abweicht.
»Unlike historical fiction’s fact-based but imagined worlds, in parafiction real and/or imaginary personages and stories intersect with the world as it is being lived. Post-simulacral, parafictional strategies are oriented less toward the disappearance of the real than toward the pragmatics of trust. Simply put, with various degrees of success, for various durations, and for various purposes, these fictions are experienced as fact.«
Parafiction bewegt sich innerhalb des surrealistischen Erbes. Mit ihm teilt die Parafiction Techniken der Collage und der Aneignung des Objet trouve, Scherz, Streich, Trickster-Mythos und Parodie. Heute ergeben sich eine ganze Reihe von Fragen zu ihrem Verhältnis. »Here, however«, schreibt Lambert-Beatty, »I am primarily interested in a horizontal history, mapping connectionsbetween experiments in dissimulation and linking them to certain broad historical shifts of the recent past.« Ein wesentliches Element, das Surrealismus und Parafiction verbindet, ist das Einschleusen von Fiktionen in die Realität.
Den Surrealisten gelang eine Revolution mit neuen kulturellen Narrativen. Die surrealistischen Narrative wurden zu trojanischen Pferden, die das Unbewusste und den Fiebertraum in die Köpfe der Menschen schmuggelten.
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