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Beweise für die Sichtbarkeit. Über die Fotokunst von Thomas Ruff

DOI: 10.13140/RG.2.2.16074.13761

Beim Betreten des Ateliers von Thomas Ruff fällt der Blick auf das Skelett eines Elefant-en mit riesigen Stoßzähnen, daneben stehen Modelle von Raketen. Am anderen Ende des Raums liegen Schädel auf dem Boden, wie aus einer paläo-anthropologischen Sammlung. Um die Ecke hängt ein Nashorn, das bis zur Hälfte in der Wand verschwindet. Im Atelier breiten sich allerlei Fundstücke aus, Wunder der Natur und Staunens-wertes, das vom Künstler selbst stammt oder von ihm gesammelt wurde. Der Besucher tritt in eine Wunderkammer mit einer ganz eigenen Ordnung, er wandelt in ihr nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. »Das ist alles aus Kunststoff!«, versichert Ruff. Auf dem Boden liegen die d.o.pe.s, an der Wand gegenüber hängt ein Bild aus der ma.r.s.- Serie. Die Obsession des Künstlers für die Astronomie ist nicht zu übersehen. Er zeigt auf einen Globus, der wiederum nicht irgendeiner ist, sondern ein Mondglobus mit einer weißen Fläche. Dabei handelt es sich um die dark side of the Moon, also jen-er Rückseite des Mondes, die so lange Projektionsfläche menschlicher Fantasien war, bis es erste Aufnahmen von ihr von einer Sonde gab. Entdeckung und Erfindung haben es Ruff angetan, die Exploration neuer, für das bloße Auge unsichtbarer Welten. Er schafft Bilder, die niemand zuvor jemals gesehen hat.

I FOTOGRAFIE - WISSENSCHAFT & KUNST

1.1 Die Erkundung der Sichtbarkeit

Der Mondglobus in Ruffs Atelier zeigt den Mond mit seiner von der Erde abgewandten Seite. Die Bezeichnung dafür - dark side of the Moon - ist irreführend, von einer Dunkelheit kann gar nicht die Rede sein. Der Mondglobus ist nicht besonders, weil er einen weißen Fleck hat, sondern weil er viel über die Verhandlung von Wissen und Unwissen, Sichtbarem und Unsichtbarem verrät. Das Bild vom Mond, dessen Inhalt erst durch die menschliche Imagination entsteht, wirf zB. Parallele auf zu Ruffs Zei-tungsfotos, Bilder, die der Künstler abfotografiert und ohne Text verwendet:

»Von ihren rationale Orientierung suggerierenden Betextungen befreit, destillieren Ruffs Zeitungsfotos den Anteil vorrationaler, amorpher Phantasterei heraus, ohne den unsere Wahrnehmung zu keinerlei rationaler Orientierung findet. Wir können einem bedruckten Stück Papier nicht die Nachricht entnehmen [...] – und zwar nicht als Folge der Bildbetrachtung, sondern als ihre Voraussetzung.«

Planeten und Himmelskörper zogen Ruffs Blick schon immer weit hinaus ins Weltall. Unser Wissen muss an das dort auftauchende Unvorhersehbare angepasst wer-den durch »Erfindung« neuer Hypothesen. Ruff stellt sie mit Bildern auf. Er weiß um die »blinden Flecken« der Wahrnehmung, die mit bestimmten Erwartungen zu tun haben. Vom Porträt einer Person verlangen wir, dass es ihre Persönlichkeit einfängt. Für unser alltägliches Leben reicht es aus, dass wir das, was wir sehen, mit dem iden-tifizieren, was »wirklich« ist. Offenbar deckt sich die Wirklichkeit aber nicht mit dem Sichtbaren. Die Wissenschaften erklären uns, dass das Wirkliche nicht mit den Farben, dem Geruch und dem Aussehen zusammenfällt, sondern - genau umgekehrt - das Unsichtbare wirklich ist. Heute nimmt man an, dass wir 99 Prozent des Universums gar nicht sehen. Wir müssen weiter denken, wenn es um das Sichtbare geht, denn Te-leskope, Mikroskope oder Detektoren machen Bereiche messbar - und damit wahrnehmbar- , die für das menschliche Auge unsichtbar sind. Die Ausstellung Dark Matter, deren Titel der Astrophysik entlehnt ist, widmet sich dieser Thematik:

»Thomas Ruff [...] verfechte[t] eine Werkauffassung, die mit den Mitteln des Foto-grafischen die Anteile von Wirklichkeit fokussieren, die wir nicht sehen können. Dass [er] hierfür ausgerechnet das fotografische Bild nutz[t], erscheint zunächst paradox.«

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