Inhalt
1_ Pokern am Fels
2_ Landschaften der Transformation
3_ Kwinters »Form-Problem«
4_ Das Virtuelle und das Aktuelle
5_ Architekt, Kletterer & Pilot
6_ Komplexität und Singularität
7_ Der »Fisch« - Topos & Topologie
8_ Entwurf einer kulturellen Topologie
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Der »Weg durch den Fisch«
Der »Weg durch den Fisch« in der gut 800m hohen Marmolada Südwand in den Dolomiten erhielt seinen Namen wegen der fischförmigen großen Höhle in der Wandmitte, die in der Szene der Kletterer bis zum 29.04.2007 als unüberwindbares Hindernis galt, bis sie Hansjörg Auer im Free Solo durchstieg und damit das Unmögliche möglich machte.
Im klassischen Sinne ist der »Fisch« eine Form. Als topologisches Objekt ist er eine Anti-Form oder eine De-Formation. Topologische Objekte sind keine Formen, die sich im Raum bewegen, sondern selbst Raum. In seinem Essay »The Complex and the Singular« erwähnt Sanford Kwinter das Free Solo und deutet es auf der Basis der Theorie von Whitehead, Bergson und Deleuze. Mithilfe der Topologie von Henri Poincaré beschreibt er Veränderungen nicht nur innerhalb eines Systems, sondern die Transformation des Systems selbst.
Der Autor geht von der Theses aus, dass die Kultur topologisch wird. Die Topologie von Poincaré ist keine Metapher für die Darstellung von Veränderungen in der Kultur, sondern ist die Grundlage, um die Kultur selbst als Matrix von Veränderungen zu deuten. Wenn Struktur und Form für die Analyse von Kultur von zentraler Bedeutung waren, so kann uns das Phänomen des Sportkletterns dabei behilflich sein, eine kulturelle Topologie zu entwerfen.
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»Aus den großen weißen Flecken auf der Landkarte von damals sind kleine unerforschte Pixel geworden. [...] Trotzdem glaube ich, dass man als Alpinist den eigenen Entdeckergeist auch heute ausleben kann.« (David Lama)
Das sind die Worte von David Lama, einem der Shootingstars der jungen Kletterszene, der zusammen mit Hansjörg Auer 2019 tödlich verunglückte. Sie deuten darauf hin, wie schwierig es für die junge Generation der Kletterer geworden war, weiße Flecken zu finden für reale Abenteuer und den Vorstoß ins Unbekannte. Die Technik wurde besser und alpine Wandprobleme waren leichter lösbar. Das Sportklettern erreichte immer neue Dimensionen, seine Protagonisten wurden Profis. 9a (XI Grad), die einstige Schallmauer, überwinden heute viele. Die jungen Wilden mussten das Rad weiterdrehen, um das Unmögliche möglich zu machen. Mit ultraschweren Routen in den Alpen oder mit Erstbesteigungen überall auf der Welt gelang es ihnen, für Paukenschläge zu sorgen. Allgemein kann man sagen, dass die »extremen Bergsteiger sportlicher wurden«, wie Reinhold Messner es ausdrückt. Das Sport Climbing entfernte sich immer mehr vom klassischen Alpinismus, der Messner zufolge kein Sport ist.
»Der sportliche Kletterer sucht die Schwierigkeiten, um sie in einer bestimmten Art zu überwinden; er unterwirft sich Spielregeln, die für ihn allein Bedeutung haben - vielleicht noch für die Entwicklung des Alpinismus.« (Reinhold Messner)