Rem Koolhaas’ Postulat vom ländlichen Raum als der neuen Frontlinie der Transformation lässt sich auf den Alpenraum anwenden. Obwohl die Alpen schon immer ein Laboratorium für das Erproben neuer Verhältnisse von Kultur und Natur waren, haben sich die Voraussetzungen dafür mit dem Klimawandel grundlegend geändert. Keller Easterling liefert mit ihrem Aufruf “designing infrastructures!” einen interessanten Ansatz für Architekt*innen. Der Entwurf wird dabei zum “metabolischen Agenten”, der sich auf geologische und metereologische Prozesse einlässt. Wo Partikel und Strahlen ohne Skalen in weltumspannende Prozesse übergehen, Architektur vom Gebäude bis zum planetarischen Maßstab reicht, geht es nicht mehr darum, Probleme ein für alle Mal und für jeden Maßstab allgemeingültig zu lösen. Architekt*innen sollten den Umgang mit Kontingenz und Unbestimmtheit lernen. Eine Qualität des Territoriums liegt nämlich darin, dass man es nie völlig erfassen oder erschöpfen kann. Im Anthropozän sind die Berge - bislang Sinnbild für das Ewige und Unverrückbare - in Bewegung geraten ...
Mit seiner These, Infrastrukturen seien wichtiger als Architektur, spricht Rem Koolhaas den emblematischen Raum unserer Zeit an. Die »neue Frontlinie der Transformation« ist ihm zufolge der ländliche Raum, der sich als operative Landschaft nicht mehr von der Stadt unterscheidet. »Infrastruktur-Monumente« - wie zB. der Brennerbasistunnel - sind »Megaformen«, deren Planung auf die Reduktion von Komplexität, Prävention und dem Management des Risikos ausgelegt ist. Der Klimawandel bringt die Fundamente dieser Bauwerke ins Wanken, weil der alpine Raum kein passiver Hintergrund ist, sondern als Akteur auftritt. Spricht man heute von Infrastrukturen, sollte man weniger an die physischen Netzwerke für Verkehr, Kommunikation und Energieversorgung denken, sondern an eine diffuse Matrix von Wellen, die zwischen den Smartphones zirkulieren, an Standards und Normen, die unseren Lebensraum bestimmen. Als eine Art Betriebssystem des alpinen Raumes eröffnen sie eine völlig neue Perspektive auf die Architektur. Architekt*innen sollten sich in Zukunft die Sprache der Programmierer aneignen, ihren Entwurf zum „metabolischen Agenten“ machen, der mit geologischen und metereologischen Prozessen arbeitet und das Potential einer Landschaft freilegt.
Der Titel »Hacking the Alps« verweist darauf, dass es nicht mehr nur um abstrakte Ideen geht. Gegenstand des Interesses ist die Infrastruktur, ein Gegenstand also, der zwar nicht unbedingt im Zentrum der Aufmerksamkeit von Architekten steht, der aber in einem oft vergessenen intrinsischen Zusammenhang mit deren Arbeit steht. Rohrleitungen, Kanäle, Straßen und Kabel stellen auf der materiellen Ebene politische Kollektivität her. Deshalb ist es für die politischen Vertreter auch wichtig, jedem Dorf einen Breitbandanschluss zu versprechen. Die Freizeitindustrie in den Alpen besteht nicht nur aus Hotels und Eventzonen, sondern aus einer komplexen logistischen Landschaft, die sie am Leben erhält. Gebäude und Leitungssysteme brauchen sich gegenseitig. In der Architekturforschung hat man, sobald die Rede von den Infrastrukturen war, den Akzent häufig auf die Steuerung und Kontrolle von Personen-, Material- und Informationsflüssen gelegt und auf die Beschaffenheit von Räumen.
Der Begriff der „Infrastruktur“ ist nicht so scharf, wie es auf dem ersten Blick erscheint. »Infrastruktur« kann mindestens in zwei Richtungen gelesen werden kann, in der Logik der »Relationen« oder als »Objekt«. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil mit ihr die Gegensätze von Architekt und Ingenieur, Form und Funktion ins Spiel kommen. Der Begriff selbst verweist bereits mit der Bestimmung »infra« auf die Dimension einer ‹darunter› bzw. ‹unterhalb› liegenden Ordnung. Infrastrukturen sind grundsätzlich in andere Formationen eingelassen (embeddedness) und nicht mehr sichtbar sind, gerade weil sie überall und immer verfügbar sind. Der logistische Dimension der Architektur wird gerade deshalb oft vergessen, weil sie sich gerade im Alltag der Sichtbarkeit entzieht. Da sie sich in ihrer Materialität nicht einfach zeigt, kommt den Praktiken der Visualisierung und der Repräsentation große Bedeutung zu.
Neuere Ansätze betrachten Architektur und Infrastrukturen aus einer kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektive und heben dabei den Unterschied zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Aspekte hervor.3 Infrastrukturen begebnen uns nicht allein auf der Ebene technischräumlicher Systeme, sondern als geregelte Organisation von (sozialen) Abläufen. Sie sind also nicht nur soziotechnische verfasst, sondern treten als Mediatoren auf. Zu den Vertreterinnen des medientheoretischen Ansatzes gehören Keller Easterling und Susanne Jany. Beide verweisen darauf, dass Architektur oftmals genau dann eine Neubestimmung erfahren hat, sobald sie sich mit neuen Techniken verbunden hat. Easterling macht die unsichtbare, infrastrukturelle Seite der Architektur zu einer neuen Gestaltungsaufgabe für Architekt*innen. Überlegungen zur Relation von Architektur, Infrastruktur und Medialität an, führen nicht nur dazu, vor diesem Hintergrund die Medialität der Architektur genauer zu konturieren, sondern auch zur Hinterfragung der Akteure und Institutionen.
Der vorliegende Text wählt einen Zugang, bei dem die Rolle der Kontingenz für architektonische, mediale und infrastrukturelle Verhältnisse und deren operativen Wirksamkeit im alpinen Raum im Vordergrund steht. Dreh- und Angelpunkt ist das Konzept der »kontingenten Landschaft«. Bei Konzepten ist es wichtig, dass sie skalierbar sind, insofern sie so grundlegend wie einfach zu verstehen, zugleich abstrakt und allgemein gehalten sind und komplexe Fragestellungen thematisieren können. Im Kontext der gegenwärtigen ökologischen Debatte rücken Infrastrukturen und Architektur in die Bereiche von Geo-, Hydro-, Bio- und Atmosphäre vor und werden mit dem Inkommensurablen konfrontiert. Hier entstehen „schwebende Architektur“ auf einem „abgründigen Grund“ (Derrida). Die Beispiele von Chiara Pradel und Nerea Calvillo verorten die Arbeit der Architekt*innen im Maßstab großer Erdarbeiten oder der weltumspannenden Atmosphäre. Sie zeigen, wie wir mehr Sensibilität erreichen können, wenn es um die wertvollste Ressource geht, über die wir verfügen, den Raum.
…