I Paul Nougè: »Die Geburt des Objekts«
In »Les Spectateurs (La Naissaince de l’ Objet)« des Surrealisten Paul Nougè verhalten sich fünf Personen so, als würden sie ein Bild betrachten. Der Titel des Bildes verspricht ein bevorstehendes Erscheinen, auf das die kleine Menschenmenge wartet. Das Bild konfrontiert den Betrachter mit einer Paradoxie, weil etwas angekündigt und im selben Moment in Frage gestellt wird: Die Wand ist leer. Nougè spielt mit der Abwesenheit des Objekts auf ein Kernstück der surrealistischen Programmatik an und lenkt die Aufmerksamkeit auf Ideen oder Fantasien, die mit dem Fehlen des Bilds entstehen. Das Fehlen des Objekts in einem Bild mit dem Titel »Die Geburt des Objekts« ist nur scheinbar widersinnig, wenn man akzeptiert, dass es gar nicht um das Objekt selbst geht, sondern um den Prozess des Sichtbarmachens.
»Das Objekt konstituiert sich in der Phantasie, und dieser Vorgang wird im Bild geschildert.«
Die Abwesenheit erzeugt eine neue Form der Präsenz. Die Künstler des Surrealismus nutzten das Fehlen des Objekts häufig als Ausgangspunkt für eine Reise in die Surrealität. Sie schufen damit das Modell für die mediale Differenz. Nicht-Identität und Differenz schaffen in unserer Gegenwat die Grundlagen für spekulative Positionen in der Philosophie, die die Grenzziehung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten, zwischen Subjekten und Objekten generell in Frage stellen...
I Zur Frage der Ontologie
Das Foto von Paul Nougé konfrontiert uns mit der Abwesenheit. Obwohl uns die leere Wand irritiert, ist sie das Wahrscheinliche und zuerst Gegebene. Kritiker der Moderne sahen die gegenständliche Darstellung als wichtige Eigenschaft an, weil es um die »richtige« Darstellung ging. Für Nougè hingegen ist der zentrale Gegenstand im Bild irrelevant. Mit dem Thema der Abwesenheit nimmt er wichtige Gedanken der Postmoderne vorweg. Mit seiner Arbeit eröffnet er ein subversives Spiel, das charakteristisch ist für den Surrealismus. Die Abwesenheit führt zu einer neuen Präsenz, sie führt zu einem experimentellem Spiel, bei dem Kategorien neu konfiguriert werden. Der KI-Künstler Alexander Schubert bringt es auf den Punkt:
»What really interests me in general, I would say, is […] building these kind of settings, kind of test settings, that have a certain simulation character to them, and when the immersion works then at some point play with the interface and kind of put a different perspective on it in a way. And I, like artistically speaking, I often do that through the use of errors or glitches to kind of expose […] the interface or to expose the technology [...].«
Das Fehlen des Objekts ist nicht nur wichtig für die Reise in die Surrealität, auch in der künstlerischen Medienreflexion der »post-digitalen Kultur« spielt es eine wichtige Rolle. Das Präfix »Post« betont die selbstverständlich gewordene Allgegenwart digitaler Medien. Die digitale Technologie ist soweit mit der sozialen, kulturellen und politischen Umwelt verschmolzen, dass ein Digitales, das sich im Binärcode oder in den Einheiten von Software und Hardware erschöpft, gar nicht mehr gibt. Die umfassende Medialität der Kunst ist nicht nur selbstverständlich geworden, sondern Teil der künstlerischen Konzepts. Als Medienarchäologe hinterfragt Manovich die Ent-stehungsbedingungen der kulturellen Formationen. Er reduziert die Ästhetik nicht auf das sinnlich Wahrnehmbare, sondern berücksichtigt auch die zugrundeliegenden Produktionsbedingungen. Die neuen Technologien deutet er in Wechselwirkung zu sozio-ökonomischen, kulturellen und politischen Fragen, die in Codes, Protokollen, Standards und Datenformaten, in alltäglichen Anwendungen von Computertechnologie unsichtbar bleiben, jedoch Realität maßgeblich mit hervorbringen.
Bereits in der Kunst des 20 Jhrts. wurde der Pfad eingeschlagen, der von einem Objekt, das an der Wand hängt, zur Nutzung eines Raumes führt, in dem das Objekt steht. Dieser Raum ist längst nicht mehr nur physisch gegeben, sondern der »latente Raum«, in dem die Bildsynthese der KI statt-findet. Er ist ein relativ neues, in seinen Auswirkungen aber besonders signifikantes Experimentierfeld. In The Language of New Media beschäftigte sich Lev Manovich noch mit dem Code (»critical code studies«), dem versteckten Text, später ging es um die versteckte technologische und soziale Infrastruktur und die versteckten Signifikanten wie die »Cloud« und die Interfaces unterhalb der Wahrnehmungsgrenze.
Längst schon ist das Unbegreifliche an die Stelle des Geheimnisvollen getreten. Wer begreift heute noch, wie ein Computer funktioniert?
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