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SO, WIE WIR LEBEN. Über die Fotokunst von Iwan Baan

Michel Serres beginnt sein Buch Troubadour of Knowledge mit der Geschichte eines Harlekins, der gerade vom Mond auf die Erde zurückgekehrt ist. Er beruft eine Pressekonferenz ein, um von seiner Reise zu berichten. »Überall ist alles so wie hier«, sagt er, »in jeder Hinsicht identisch mit dem, was man gewöhnlich auf der Erdkugel sehen kann«. Das ist nicht das, was sich das Publikum erwartet hat. Statt des Außergewöhnlichen serviert er ihm Banales. Die Zuhörer reagieren gereizt und fordern den Harlekin auf, sein Gewand abzulegen, bis er am Ende ganz nackt darsteht. Aber in seine Kleider sind all die bunten Bilder eingeschrieben, die wie Aufkleber auf einem Koffer von seiner Reise erzählen.

Neben dem Harlekin taucht bei Serres noch Hermes auf. Auch er ist ein Reisender. Hermes ist das Medium, das vermittelt, so wie das Reisen selbst, das immer Erfindung, Übersetzung und Kommunikation ist. Die Reise erzeugt stets ein Dazwischen, weil sie Grenzen aufhebt zwischen den Räumen und den Menschen in ihnen. Was immer es ist, ein Götterbote oder ein Harlekin, die Vermittler erleichtern die Kommunikation zwischen disparaten Teilen, seien es räumliche oder zeitliche, oder - als kulturelle - beides zugleich. Das Vermittelnde kommt dem Harlekin sehr nahe. Er ist eine Mischfigur, ein farbenfroher Clown, der mitten im Chaos des Lebens steht. Der Harlekin hat ein Gespür für die feinen Nuancen. Er fordert die Welt dazu auf, nicht nur einer Logik zu folgen.

I Wer sind wir heute?

Als seine Wohung in Amsterdam ausbrannte, hinterließ das bei Iwan Baan kein Trauma. Im Gegenteil, das Ereignis verlieh ihm Flügel. Seither wechselt er die Länder wie andere Menschen ihre Schuhe. Diese Erfahrung ist für ihn grundlegend, sie zwingt ihn dazu, immer neue Blickwinkel einzunehmen. In einem seiner Projekte reiste er in 52 Wochen um die Welt und fotografierte in 52 Städten. Baan behauptet von sich, er lebe »out of a suitcase 365 days a year«. Er ist ein »traveller-messeger«, so wie der Harlekin kehrt er immer wieder mit bunten Bildern zurück. Seine »globe-trotting snaps« werden von mehr als 90.000 Followern auf Instagram geteilt. Als der rastlose Fotograf am 29. Oktober 2012 in New York ankam, erlebte er mit dem Hurrikan Sandy »eine Woche, an die man sich erinnern wird«. Den Stromausfall in Lower Manhattan, eine Auswirkung des Sturms, hielt er aus der Luft fest und schuf damit eine Ikone. Inzwischen ist Baan Haus- und Hofarchitekt, er steht im Dienste von Stararchitekten wie SANAA, Koolhaas, Hadid, Diller Scofidio+ Renfro, Ito oder Herzog & de Meuron. Dabei will er gar keine Ikonen schaffen. Stattdessen führt er den Stararchitekten vor, dass sie zum Opfer ihrer eigenen »images« geworden sind. Baan lichtet Gebäude ab, die von Menschen bevölkert sind, sie benutzen und zeigen, wie sie sich in ihnen fühlen. Die Felsenkirchen in Lalibela stehen bei ihm wie selbstverständlich neben dem 500-Millionen-Dollar Opernhaus von Zaha Hadid in Aserbaidschan. In seiner Arbeit entstehen komplexe Raum-Zeit-Faltungen, Knautschzonen, bei denen vormals weit auseinander liegende Punkte ganz nahe beieinander liegen, wie die Überreste von Meerestieren in den Alpen. Wer in die fragmentierte globalisierte Welt eintaucht, entscheidet sich für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Ist das der Mantel des Harlekin?

Liegt sein Mantel glatt gestrichen auf dem Tisch, so lässt sich auf ihm der Abstand zwischen zwei markierten Punkten genau bemessen. Wird er gefaltet oder zerknittert, sind vorher weit entfernte Punkte plötzlich nah und berühren einander. Zwischen den Fotos, die Baan nach Hause bringt, liegen Kontinuitäten, die faszinieren: Rekurrierende Elemente schaffen Berührungen, Überlappungen und Faltungen, die nie in nur eine Richtung verlaufen. Dort tauchen die Fragen auf:

Wer sind wir heute?

Wie sind wir zusammen?

Was und wen schließen wir von unserem Miteinander aus und wie?

Der Harlekin kehrt nicht nach Hause und sagt: Ich bringe euch etwas bei, was ihr bislang nicht gewusst habt. Wir alle wissen nicht, was uns erwartet in der Welt, in die wir eingetaucht sind. Vielleicht faszinieren Baans Fotos ja auch deshalb, weil sie ein Nicht-Wissen affizieren, das die Voraussetzung ist für jedes Wissen (Serres spricht von »randonnees«, bei dem das Wort »random« (Zufall) mitschwingt). Der Meister der Übergänge und Verbindungen bleibt nicht bei sicheren Referenzen, Gründen, Topoi oder klassischen Orten stehen. Auch Baan bewegt sich in einer Landschaft aus Nuancen, Wendepunkten und Passagen. Wie bei einer Wetterkarte sind es die vielen kleinen Pfeilchen, die am Ende ein Abbild unserer Welt schaffen. Auf diese Weise entstehen die Passagen, die von den Felsenkirchen in Äthiopien nach New York führen.

»An object, a circumstance, is thus polychronic, multitemporal, and reveals a time that is gathered together, with multiple pleats.«

Es ist kein Zufall, dass Baans Arbeiten viele aktuelle - und vielleicht zukünftige - Veränderungen in der globalen Gesellschaft beinhalten. Der Fotograf ist ein Seismograph, der anzeigt, wie Menschen überall auf der Welt Orte schaffen:

»It´s about a kind of »plasemaking« - about people, what people do there [...]«.

Migration, Medialisierung und Kommodifikation verändern unsere Wahrnehmung von Ort, Raum, Zeit und Gesellschaft. In der zunehmend mobilen Welt ist der »Verlust des Ortes« zu einem Thema geworden. Diese Veränderungen stellen die selbstverständlichen Unterscheidungen zwischen »nah« und »fern« in Frage. Unterschiede sind viel weniger leicht zu benennen, als wir einmal dachten. In der »fragmentierten Globalität« findet man Kulturen nicht mehr an bestimmten Orten, sondern in Form »de-territorialisierter« Ströme. Die kulturelle Distanzierung vom Ort wird verstärkt, wenn Menschen in der Lage sind, ihre Fantasie durch die Mediatisierung fremder kultureller Bedingungen zu erweitern und zu verändern. In Modernity at Large verwendet Appadurai für diese Räume die Bezeichung »scapes«, weil sie mit ihren unscharfen Grenzen Landschaften ähneln, die sich in ihrer Form bewegen und wandeln können. Baans Fotos gehören zu den globalen Bilder-Landschaften. Auch wenn im Kontext der Globalisierung Orte verloren gehen, bringt die Welt in Bewegung auf kreative Weise neue hervor. Menschen nehmen im globalen Amphitheater Platz, aber immer mit einem winzigen Unterschied des Blickwinkels. Baan spielt damit. Seine Fotos zeigen unsere angeborene Fähigkeit, uns Orte anzueignen. Er wählt dafür zwei verschiedene Strategien: die Luftaufnahme (zB. vom Perot-Museu in Dallas, den Kairoer Vorort Zabaleen oder die Luftaufnahme vom zur Hälfte im Dunkeln liegenden Manhattan) und die Nahansicht der Gebäude und ihrer Bewohner.

Iwan Baan: Harpin Opera

Architektur ohne Architekten

Die neu erfundenen Homelands der deterritorialisierten Gruppen ragen oft phantasievoll in die Zukunft, oft sind es aber auch Orte der Vergangenheit, die erinnert werden. Baan erkundet auf seinen Reisen verschiedene Formen von »Lokalität«, die er in dezidiert architektonische Räumen findet. Er ist bekannt für seine dokumentarischen Bilder, die das Leben und die Interaktionen in der Architektur zeigen. Folgt man seinen Spuren, so merkt man schnell, dass es nicht nur darum geht, die Welt zu denken, sondern auch zu leben, sich in ihr zu bewegen auf eine Art und Weise, wie diese Welt ist und wie sich sich fortlaufend verändert. Es ist ein Modus, sich in ihr zu verhalten, zu fühlen, zu wünschen und sie als einen großen Resonanzkörper zu erleben. Serres verwendet dafür den Begriff »Welt-Objekt«. Was in dieser Reihe miteinander verbunder Momente entsteht, ist eine »globale Intuition« oder einfach eine »neue Art, in der Welt zu sein, die Dinge zu sehen und zu verstehen«.

Neue Formen des Lebens in der Welt erfordern neue Konzepte und Mittel, um sie zu beschreiben. Die Fotografie gehört dazu. Versteht man Medien als soziale Prozesse, die Gemeinsamkeiten erzeugen, so erklären sie auch, wie neue kulturelle Formationen entstehen. Baans Arbeit reagiert auf die tiefe Transformation der Verbindung zwischen unseren alltäglichen kulturellen Erfahrungen in der Globalisierung und unserer Konfiguration als vorzugsweise lokale Wesen. Seine Fotos zeugen von der Fähigkeit der Menschen, zu überleben und sich anzupassen an die Verhältnisse, nicht heute und hier, sondern immer und überall.

»Iwan zeigt die ganz verworrene Beziehung zwischen dem Gebäude, seiner Umgebung und ihren Benutzern, di edie Architekten heute mehr denn je beschäftigt.«

Auch Baan hat Vorbilder. Mit dem britischen Fotografen Martin Parr findet er einen Chronisten unserer Zeit. Angesichts der ständig wachsenden Bilderflut (»Propaganda«) suchte Parr stets nach Möglichkeiten, die Welt aus einer ungewöhnlichen Perspektive zu betrachten und vertraute Dinge auf eine neue Art und Weise zu sehen. Baan betont in seinen Interviews, wie wichtig das auch für ihn ist:

»I start to discover things in a new way.«

Parr fotografierte Motive von alltäglichen Klischees, abseits des Geschminkten und Kaschierten und auch in Richtung des Hässlichen. Gleichzeitig zeigen seine Fotos auf eindringliche Weise, wie wir leben, wie wir uns anderen gegenüber präsentieren und welchen Wert wir den Dingen geben, die uns umgeben. Parr reiste wie Baan weltweit herum, um das Eigene mit den Phänomenen anderswo zu vergleichen und die Analyse der sichtbaren Zeichen der Globalisierung mit ungewöhnlichen visuellen Erfahrungen zu verbinden. Beide verknüpfen spezifische mit universellen Bildern, die sie mit nach Hause bringen, ohne die Widersprüche zwischen ihnen aufzulösen.

Neben Parr ist es vor allem Mitch Epstein, von dem Baan lernt

»[to] capture the unique, quirky behaviors of different people in specific places and at times.«

So wie Epstein hält Baan bestimmte Situationen fest, die aus Menschen, Landschaften und einem »spirit« bestehen. In seinen Bildern steckt immer die Vorstellung von einer Zukunft, die sich beheimaten und bewohnen lässt. Die Welt ins Bild bannen, die Zeit anhalten, in »Nahaufnahmen beschreiben«, der Fotograf entscheidet sich für ein Setting, um ein Bild und mit ihm ein neues Wissen zu generieren. Er interessiert sich dafür, wie Menschen an Orten Beziehungen aufbauen und eine unverwechselbare kulturelle Präsenz in die Landschaften oder in eine Stadt einschreiben. Zahlreiche Aufnahmen, die der Fotograf aus dem Helikopter heraus machte, verdeutlichen, wie sich die Architektur zu ihrem großmaßstäblichen Umfeld verhält. Als Gegenperspektive zeigt er Gebäude, Städte und ihre Bewohner in der Nahansicht.

»They always should have very much a connection to a specific place, time, people, a context, culture, and this kind of thing, so people are, in that sence, a very important part. For me it`s always important to find projects, buidlings and places which have very much a relationship to assign to a specific context, to a specific city, country. There should be kind of an urgency, necessity, or complete juxtaposition of this kind of things with a place [...].«

An einem kalten Wintertag erkundete er zB. die Umgebung des Harbin Opera House in der nördlichsten Provinz Chinas, das von MAD-Architetcs aus Peking entworfen und 2015 fertig gestellt wurde. Dort traf Baan auf Eisfischer und Leute, die ihren Hund ausführen. Die extreme Kälte vor Ort erzeugt eine eigenartige Situation. Der Betrachter friert fast mit den Menschen auf den Bildern. Baan fängt ihn ein nach Art eines Straßenfotografen, führt ihn zum Gebäude, den in die Hülle geschnitzten Wegen folgend bis zum höchsten Punkt des Gebäudes. Im Winter verschwindet die scheeweiße Struktur in der Landschaft, mit der Skyline der modernen Stadt im Hintergrund. Andere Aufnahmen zeigen das CCTV Building von OMA aus der Perspektive von Arbeitern, die im Vordergrund stehen. Eigentlich sollte er für Rem Koolhaas den gesamten Bauprozess des Gebäudes dokumentieren, doch schon bald faszinierten ihn die Wanderarbeiter, die zu Tausenden aus den ländlichen Gegenden Chinas zum Bau herangezogen wurden und rund um die Uhr auf der Baustelle lebten, arbeiteten, sich ausruhten, wieder arbeiteten. Obwohl das Gebäude ein Symbol für den technologischen Aufbruch ist, setzten die Menschen einfache Materialien und ihre eigenen Hände ein. Hier traf das Archaische auf die Supermoderne. Baan doku-mentierte in China nicht nur den gigantischen Wandel der Städte, sondern auch die Arbeiten von Wang Shu, einem lokalen Architekten, der sich der globalisierten Importarchitektur widersetze.