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Vitruvs Ameisenmühle

Wir sprechen von Mythos und Kosmos, weil die präzise und doch schwer fassbare Form einer Verbindung, die zwischen ihnen besteht, zwischen den vielfältigen Traditionen des Geschichten-erzählens - der Sage, der Fabel, dem Märchen - und den Wissenschaften, dazu beiträgt, das Problem zu etablieren, auf das die Philosophie von Serres immer wieder reagiert: die Fragen nach der Vermittlung und - wenn es darauf ankommt - nach der Wiedergutmachung. In der griechischen Mythologie ist Atlas eine Figur, die den Himmel hochhält und die antike Welt der direkten Kräfte und der vektoriellen Maschinen verkörpert, die Vitruv beschreibt. Atlas steht für das »Harte«. Serres stellt ihm - als Leitfigur des Informationszeitalters - den Götterboten Hermes gegenüber. Vitruvs Traktat ist eine »Statue«, symmetrisch und im Gleichgewicht, dh. dem Harten zugeordnet. Bei Hermes dominieren fließende Beziehungen und Übergänge, absichtliche Verflechtungen von Schleifen und Windungen, die zu zukünftigen Potenzialitäten werden können, umwandeln oder auflösen. Bei Hermes ist die Wirklichkeit eine riesige Messagerie. Entscheidet man sich dafür, seinen Pfaden durch das Werk von Vitruv zu folgen, so liegt der Vorteil darin, dass man fast überall beginnen und in jede Richtung gehen kann. Diese Wahl birgt aber auch ein Risiko: Man denkt, man macht einen sauberen Schnitt, wird aber unweigerlich in einen Strudel hineingezogen ...

Das topologische Denken

Das Coverbild von Serres’ Atlas zeigt die Erde bei Nacht. Der Betrachter blickt auf ein umgestülptes Universum, bei dem die Lichter der Metropolen jenes der Sterne ersetzen. Sind es die Partikel einer »Chaoswolke«, die man sieht, eine leuchtende Unordnung, oder verdichten sich die Lichtpunkte bereits zu einer aufscheinenden Ordnung? Das Bild der planetarischen Urbanisierung erzeugt eine erste Hypothese, eine erste Sichtweise der Welt. Michel Serres nennt sie »globale Intuition«, weil es nicht um das rationale Erfassen geht, sondern um ein Gefühl für die Rhythmen der Welt. Unordnungen wie auch Ordnungen sind für Serres kein »Was«, sondern ein »Wie«, dh. eine Art und Weise, wie wir die Welt erfahren. Diese Intuition ist vor-rational, aber weder gegen die ratio gerichtet noch rein willkürlich. Sie ist global, weil sie kein isoliertes Phänomen behandelt, sondern sich auf ein Konzept von Wirklichkeit bezieht. In unserem Beispiel gelangen wir vom Bild der beleuchteten Erdoberfläche zur Intuition, dass der Raum topologisch konstituiert ist und dass es einen Zusammenhang geben könne zwischen der römischen Stadt und den Global Cities unserer Tage.

Serres neigt dazu, ein Motiv aufzugreifen und dann in einer üppigen zentrifugalen Ausbreitung auszufächern, sodass er mühelos den gleichen chaotischen und turbulenten Wirbel, den das Satelliten-bild offenbart, beim römischen Autor Lukrez findet. Seine Gedanken gehen immer in zwei Richtungen, vorwärts und rückwärts. Bewegung ist entscheidend. Was er sucht, ist kein übergreifendes Argument, das durch das gesamte Werk gleich bleibt. Vielmehr faltet er nach Belieben Subjekte, Räume und Zeiten, Narrative und Episteme zusammen zu einer Karte mit vielen noch nicht erschlossenen Wegen oder Wurmlöchern. Die neuen Passagen verbinden Vitruvs Kriegsmaschinen mit unseren Smartphones, die Stadt der Antike mit einer Wetterkarte der NASA. Es sind die vielen Verbindungen und Abweichungen, welche die eigentliche Textur des Schreibens und der Gedanken bilden.

Vitruvs Traktat ist das einzige überlieferte umfassende und systematisch gegliederte Sachbuch zur Architektur der Antike und zu ihren theoretischen Grundlagen. Lange Zeit galt dieses Werk als systematische Ordnung des Wissens, die sich problemlos von einer Epoche zur nächsten übertragen lässt und unabhängig vom Kontext bestehen kann. Ein Schema ist das, was unveränderlich bleibt, egal wie oft eine Geschichte erzählt wird. Darin unterscheidet sich die Mathematik nicht von der mythischen Erzählung. Michel Serres betrachtet das Schema nicht als den Ursprung der Invarianz, sondern als ihren Träger. Seine symbolische Analyse führt zu »konkreten Modellen«, die nicht einfach Kopien idealer Formen sind, sondern Vehikel, die ihren Ursprung inmitten des Lebens finden und eine Reise in der Geschichte antreten …