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ORBITAL
Thema
Die Studierenden entwerfen einen Wohnraum für das nachhaltige Leben in der Zukunft. Wie dieser Wohnraum aussehen wird, wie groß er sein wird, aus welchen Elementen er sich zusammensetzt, welche Räumen und Zeiten er umfasst, welche Atmosphäre er hat und mit welchen Mitteln und ästhetischen Strategien er erstellt wird, ist offen. Die Studierenden werden konfrontiert mit sozialen, politischen, ökologischen, technologischen, kulturellen und ethischen Fragestellungen, die sich aus der Thematik des Wohnens in all seinen Facetten ergeben und an Diskurse unserer Zeit anschließen. Insbesondere steht die Transformation des Wohnens im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Die Student*innen sollen sich methodisch am spekulativen Design orientieren, das eine nahe Zukunft imaginiert, aber auf gegenwärtig verfügbaren Daten gründet. Die entstehenden Projekte sollen nicht nur eine bestehende Welt abbilden, sondern sich an einer möglichen Zukunft orientieren. Der Maßstab ist frei wählbar, das Projekt kann einen planetarischen Maßstab haben, dh. den Blick auf die Erde beinhalten und das In-der-Welt-Sein des Menschen reflektieren, es kann aber auch die Bewegung einer Träne im Raum kartographieren. Der Ausgangspunkt kann ein „großes“ Thema der Welt sein oder das eigene Zimmer …
Warum das Thema „Wohnen“? Das Wohnen steht in einer labilen Beziehung zu uns selbst und zu der uns umgebenden Umwelt (Dinge, Menschen, Tiere, Pflanzen) In ihm drückt sich unsere Identität, unser In-der-Welt-Sein und unsere Stellung in der Gemeinschaft aus. Das Wohnzimmer kann ein Seismograph sein, um die politische Tektonik unserer Zeit zu erfassen oder aber auch ganz persönliche, fein gesponnene Nuancen unserer Befindlichkeit registrieren. Die konstitutiven Elemente des Wohnens sind seine zunehmende Medialisierung (Informations- und Kommunikationsmedien), Individualisierung und Deterritorialisierung (Verlust der Ortsbindung). Das Wohnen kann eine Lebensform von Rückzug und Sicherheit sein, aber auch als digital organisiertes Nomadentum in seinen verschiedenen Facetten – von den vier Wänden bis zur Welt „da draußen“ – Dynamik und Extrovertiertheit in den Fokus rücken. Die philosophischen Streifzüge (Flusser, McLuhan, Giedion, Sprenger, Sloterdijk u.a.) verknüpfen den planetarischen mit dem menschlichen Maßstab, sie kartographieren den Körper und seine Bewegungen oder die Welt der Dinge unter den Voraussetzungen unserer Zeit. Der Schwerpunkt des Entwurfs soll allerdings nicht auf den Dingen liegen, sondern – wie der Titel sagt – auf den „Umlaufbahnen“, dh. auf unserer Perspektive darauf.
Der Schwerpunkt liegt auf der Zeichnung. Ansätze und Lösungen ergeben sich aus der zeichnerischen Praxis, die Vielfalt und Komplexität beinhaltet und auf der Grundlage frei wählbarer Techniken (Handzeichnungen, Collagen, Mashups, KI) beruht. Die Entwürfe werden theoretisch mit Hinweisen auf die Literatur und zentrale Referenzen begleitet. Wichtiger ist allerdings, dass die Studierenden Freude am Zeichnen mitbringen und bereit sind, selbstständig Entscheidungen zu treffen.
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Grundlagen
Die Grundlage für das Entwerfen ist der Roman „Umlaufbahnen“ (engl. Orbital) der britischen Autorin Samantha Harvey. Sie beschreibt darin das Zusammenleben von sechs Astronauten in einer Raumkapsel und ihre Beziehung zum Planeten. Sechzehnmal an einem Tag umkreisen sie die Erde und können ebenso viele Sonnenaufgänge bewundern. Die Autorin zoomt beständig in Raum und Zeit, sie öffnet immer neue Perspektiven auf die unterschiedlichsten Phänomene. Ständig wechseln die Perspektive und der Panoramablick auf die Erde: "Diesiges blassgrün schimmerndes Meer, diesiges orangerotes Land. Afrika, von Licht durchdrungen. Im Inneren des Raumschiffs kann man es fast hören, dieses Licht. Gran Canarias steile, strahlenförmige Schluchten schichten die Insel auf wie eine eilig gebaute Sandburg, und als das Atlasgebirge das Ende der Wüste ankündigt, erscheinen Wolken in Form eines Hais, dessen Schwanzflosse die Südküste Spaniens antippt, die Spitze seiner Rückenflosse die Südalpen und dessen Schnauze jeden Moment ins Mittelmeer tauchen wird.“ Der Blick auf die Erde wurde mit der Raumfahrt zum Signum der sehr grundsätzlichen Verletzlichkeit dieser so einsamen, leuchtenden Weltkugel und leitete zum Öko-Kritizismus über. Die Raumkapsel beinhaltet alternative Zeit- und Raumkonzepte und ein Reservoir an Techniken, die es ermöglichen, über Raum, Zeit, Körper, Bewegung usw. nachzudenken. Im Roman ist das Bewohnen der Kapsel ein höchst labiler Zustand, der über das Sehen beschrieben wird.
Ergänzend dazu werden die Student*innen mit Referenzprojekten vertraut gemacht, in denen das Wohnen relevant wird. Das Space-Age-Design der jungen Avantgarden der 1960er Jahre inspirierte sich am Weltraumprogramm und drückte gesellschaftliche Utopien und das Weltgeschehen im Design aus. Ihre Entwürfe spiegelten die Faszination einer Gesellschaft, die am Rande einer neuen, aufregenden Zukunft stand. Reyner Banhams berühmtes „Unhouse“ ist eine Bubble, in deren Zentrum die technische Apparatur steht. In The Architecture of the Well-Tempered Environment (1969) verbindet er mit seiner Konzentration auf die technische Hervorbringung von Umgebungen durch Energie- und Informationsströme zentrale Fragen der Medien- und der Architekturtheorie. Banham beschreibt die Koevolution von Architektur und Technik als Geschichte einer immer umfassenderen Kontrolle menschlicher Lebenswelten. Er zeigt, dass technische Infrastrukturen nicht nur Komfort produzieren, sondern auch neue „environments“ hervorbringen, also mit Technologien ausgestattete Umwelten. Medialität ist wie die Raumkapsel eine lebensweltliche Sphäre. “The domestic revolution that began with electric cookers, vacuum cleaners, the telephone, the gramophone, and all those other mechanized aids to gracious living are still invading the home, and have permanently altered the nature of domestic life and the meaning of domestic architecture.” (Banham, 1959, p.235)
Superflux entwerfen mit „Mitigation of Schock“ (2017-19) eine typische Wohnung für London im Jahre 2015. Während Reyner Banham mit dem „Unhouse“ einen Entwurf machte, bei dem es darum ging, dass die Technik alle menschlichen Bedürfnisse befriedigen kann, der Benutzer wird von allen Unahnnehmlichkeiten befreit (wie Erwerb von Besitz, Erhaltung), die counter-culture war befreit von allen Beschränkungen vorausgehender Generationen. Beim Projekt von Superflux müssen die Bewohner hingegen lernen, mit Einschränkungen umzugehen, die der Klimawandel oder Nahrungsmittelverknappung mit sich bringen. Fogponics oder hydropnis ermöglichen einen sparsamen Wasserverbrauch, Gaslicht ersetzt das elektrische Licht usw.
Das Buch von Samantha Harvey öffnet eine Vielzahl von Themen. Die Raumkapsel ist eine Petrischale, um über das Wohnen nachzudenken und zugleich Entwurfsmetapher. Der Roman führt die Themen Mensch, Körper, Maschine, Raum, Blick und Bewegung zusammen. Daraus entsteht eine komplexe Reflexion auf philosophische Themen, ein Panoptikum aus Architektur- und Medien-, Raum-, Technik- und Existenzphilosophie.
Raum und Körper
An einer Stelle schreibt Harvey, dass die Tränen eines Astronauten, die in der Schwerelosigkeit schweben, eingefangen werden müssen, damit sie keinen Schaden an der komplexen Apparatur anrichten. Die Astronauten nehmen ihren Körper als eine Ansammlung loser Fragmente wahr. Welche Denk- und Handlungsmöglichkeiten gibt es, Körper nicht über konventionelle Schablonen zu definieren? Ich schlage vor, das, was Körper in der jeweiligen Wechselwirkung mit ihrer medialen Umgebung vermögen, anders zu denken.
Raum, Bewegung und Perspektive
Die Raumkapsel enthält die Themen der Beschleunigung und Simulation, die Paul Virilio in seinen Texten variantenreich darstellt, in nuce. Medien sind für ihn „Fahrzeuge“, die dem Transport und der Eroberung des Raumes dienen. Die Wohnung ist ein Medium, das der Aufrüstung und Substitution des Mediums Mensch dient. Wir alle leben in einer Realität, die nur noch als Medienwirklichkeit erfahrbar ist.
Umwelt und Technologie
Ein anderes Thema ist die Transparenz. Mit der Medialisierung des Wohnens wird das Innen zum Außen und umgekehrt. Fenster und Türen werden erweitert durch das technische Interface. Strom-, Gas- Wärme- und Telefonleitungen werden heute zum „Internet der Dinge“. Der Wohnraum wird zunehmend artifiziell und der Körper parallel dazu technisch aufgerüstet. Durchblicke / Einblicke / Ausblicke
Methode - Was ist spekultatives Design?
Das Buch ist im Entwerfen die Grundlage für ein spekulatives Design, dem es darum geht, neue Perspektiven zu öffnen, Räume für Diskussionen und Debatten über alternative Lebensweisen schafft und die Fantasie zu inspirieren. Spekulatives Design kann auch Grundlage sein für eine Neudefinition unseres Verhältnisses zur Realität. (Dunne und Raby). Zur Spekulation gehört auch eine Ästhetik, die mit dem „Nicht-Realem“ handelt, zB. unerwartete Maßstäbe verwendet oder die Proportionen eines Objekts verzerrt. Indem man etwas schafft, das auf irgendeine Weise „schräg“ aussieht, zwingen man den Betrachter dazu, das Gesehene zu hinterfragen und seine Vorstellungskraft anzuregen, was diesen Effekt verursachen könnte.
Der Entwurfsprozess läuft in der Regel in den Schritten Analyse, Ideenfindung, Iteration und Anwendung ab. Das spekulative Design kennt noch zwei weitere Schritte: Erkundung und Visualisierung. Im Entwerfen sollen die Studierenden keine umfangreichen Analysen machen. Wir blenden die umfangreiche Analyse aus und konzentrieren uns im Entwerfen auf die „Erkundung“ und „Visualisierung“. Mit „Erkundung ist die Suche nach Inspirationen in aufkommenden Technologien gemeint, aber auch das Gespür für kulturelle Veränderungen und die Orientierung an aktuellen Ereignissen. Die „Visualisierung“ meint die Umsetzung in verschiedenen Formen, die jeder selbst wählen kann (Handzeichnung, KI-generierte Bilder, Zeichensoftware, Modellbau). In der Visualisierungsphase erwecken wir unsere Erkenntnisse durch Skizzen, Storyboards, interaktive Prototypen und andere kreative Visualisierungen zum Leben. Wir erstellen temporäre Mock-ups und Simulationen, die unsere Ideen zum Leben erwecken und uns helfen, besser zu verstehen, wie sie sich in der realen Welt anfühlen. Im Idealfall entwickelt sich das Projekt aus der Zeichnung selbst.
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Beispiele
Beispiel 1: Ernst Mach: Darstellung zu „Die Analyse der Empfindungen“ (1867)
Beispiel 2: Nicolas Verdejo: A Room is not a House or Banham’s Latest Nightmare” (2020)
Beispiel 3: Philip’s „Microbial Home“ (2011)
Beispiel 4: Superflux’s “Mitigation of Shock” (2017-19)
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Literatur
Bachelard, G. (2014). The Poetics of Space. London: Penguin Classics
Banham, R.: “The Great Gizmo”. Aus: Design by Choice, ed. By Penny Sparke, London: Academy Editions, 1981 (orig. publ. in Industrial Design 1965)
Banham, R. (1965). ‘A Home is Not a House’, Art in America, 1965, Volume 2, New York, p.73.
Banham, R. (1959). ‘Neoliberty: The Italian Retreat From Modern Architecture’, The Architectural Review, London, p.232.
Banham, R.: Theory and Design in the First Machine Age. The Architectural Press, London 1960.
Colomina, B. (1996). Sexuality & Space. Princeton: Princeton Architectural Press.
Dilnot, C. (2011). ‘Sustainability and Unsustainability in a World Become Artificial: Sustainability as a Project of History’, Design Philosophy Papers, 9:2, Taylor and Francis Online, pp. 119-121; /toc/rfdp20/9/2?nav=tocList
Dunne, A. & Raby, F.: Speculative Everything (pp. 2-3). Cambridge; London: MIT Press 2013
McGuirk, J. (2011). ‘Philips’s Microbial Home takes kitchen design back to the future’, in The Guardian, November 21
Höhler, S.: Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960 -1990. London 2014
Flusser, V.: Medienkultur, Frankfurt am Main 1997.
Foucault M.: Andere Räume(in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34 - 46)
Füssel, M.: „Tote Orte und gelebte Räume: zur Raumtheorie von Michel de Certeau S. J.“. In: Historical Social Research 38 (2013), 3, pp. 22-39. URN: /urn:nbn:de:0168-ssoar-388152
Giedion, S.: Mechanization Takes Command – A Contribution to Anonymous History Oxfotd: University Press 1948.
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Hollis, E. (2018). The Memory Place: A Book of Lost Interiors. Counterpoint, Berkeley, CA: Portobello Books.
Ionescu, V. (2018). The Interior as Interiority, Palgrave Communications Humanities and Social Sciences Business, 2018: /articles/s41599-018-0088-6
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Latour, B. (2005). Reassembling the Social: An Introduction to Actor-Network Theory, Oxford University Press, Oxford and New York, pp.6-9.
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Nigel Whiteley: Reyner Banham: Historian of the Immediate Future. MIT Press, 2003
Schivelbusch, Wolfgang (2007 [1977]): Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München, Wien
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Sprenger, Florian: Architekturen des «environment». Reyner Banham und das dritte Maschinenzeitalter. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Jg. 7, Heft 12 (1/2015): Medien / Architekturen, 55–67. DOI: /10.25969/mediarep/1398.