THESE 12: ALLES IST SENSIBILISIERT
András Szántó: Imagining the Future Museum. 21 Dialogues with Architects, Berlin 2022, S. 64 -73.
Das Konzept »Tempel oder Zufluchtsort«
András Szántó spricht mit David Chipperfield.
In den letzten vierzig Jahren, seit dem Ende der Bewegung der Moderne, sind eine Reihe von Gebäuden entstanden mit hoher Qualität. Viele Architekten haben von der globalen Öffnung profitiert und konnten weltweit spektakuläre Projekte realisieren. Viele Museen wurden dabei zum Spektakel und Attraktor von Massen von Menschen, Seit dem Bau des Guggenheim-Museums in Bilbao wurde das Museum zum Bestandteil der Tourismuswirtschaft. Chipperfield irritiert diese Entwicklung. Er distanziert sich von einer Architektur, die Allianzen mit der Ökonomie der Konsumgesellschaft sucht und dabei ihren Maßstab vergisst.
Dieser Entwicklung setzt Chipperfield die Idee eines Museums entgebgen, das zur kulturellen und sozialen kommunalen Infrastruktur gehört, die in erster Linie den Einheimischen gehört und nicht den Touristen. Kultur ist für ihn nichts Exotisches. Wir müssen Aktivitäten würdigen, die über die praktischen und kommerziellen Beziehungen hinausgehen und uns miteinander verbinden. Für den Architekten ist es wichtig, eine Balance zu finden zwischen dem Spektakel des Museums und dem Museum als Sanktuarium, als Ruhepol, den Menschen aufsuchen, weil sie ihrem Alltag entfliehen möchten und weil sie Entschleunigung suchen. Die Kernaufgabe des Architekten ist die Kunst, unsere Sinne zu schärfen. Das Museum sollte eine andere Erfahrung ermöglichen, alles in ihm ist sensibilisiert, akustisch wie visuell. Nur so gelingt es dem Museum, seinen Besuchern eine ganz besondere Erfahrung zu bieten und Dingen einen Wert zu geben.
Eine besondere Erfahrung bot das Neue Museum in Berlin, das seit dem Zweiten Weltkrieg eine Ruine war und mit traumatischen Erfahrungen umgeben. Chipperfield hatte inmitten von Berlin den Eindruck, in Pompeji zu sein. Er gab dem Bauplatz die Bedeutung einer archäologischen Ausgrabungsstätte und interpretierte das Bauwerk als geologisches Phänomen, das sich in verschiedenen Strata niederschlug. Seine Idee war, nichts wegzunehmen und möglichst viele Materialien, die man vor Ort fand, zu verwenden, um zu einem Komposit zu gelangen, das die Qualitäten eines nie mehr erreichbaren Originals mit der besonderen Atmosphäre der Ruine verband. Die Arbeit zwang die Architekten in einen ganz besonderen Prozess der Fertigstellung, der radikale Öffnung erforderte, auf keine Vollständigkeit hinauslaufen konnte und nur im Kollektiv überhaupt machbar war.
Auf die Frage, wie das Museum der Zukunft aussehen werde, antwortet Chipperfield mit einer Unterscheidung zwischen Museen mit Artefakten und solche mit Geschichten. Wissenschaftsmuseen sind längst nicht mehr nur langweilige Ausstellungen von Fossilien und Steinen, auch sie konzentrieren sie sich darauf, Geschichten zu erzählen. Einerseits macht sie das aufregender und interaktiver, aber man verliert damit die Einfachheit der direkten Auseinandersetzung mit einem Objekt oder Artefakt. Der grundsätzliche Wandel des Museums kommt von der zeitgenössischen Kunst. Wenn schon ein schmelzender Eisberg ein Stück Kunst ist, dann sollte man über andere Arten von Räumen nachdenken, die die Kunsterfahrung ermöglichen. Ja, man muss sich fragen, ob sich die Künstler nicht ganz von den Strukturen des Museums lösen könnten. Wenn fünfzig Menschen, die mit Fahrrädern um die Stadt fahren, ein Kunstwerk sein können, warum sollte diese Kunstwerk dann noch an einer Institution hängen bleiben?
Heute leben wir mehr in einer event-zentrierten Kultur. Also öffnen sich einem im Prinzip zwei Arten und Weisen der Kunsterfahrung: Entweder man geht in eine tempel-artige Struktur und schaut sich wertvolle Dinge an, oder man taucht in eine Installation, Performance, in ein Event oder einfach in eine besondere Erfahrung ein. In gewisser Weise durchlaufen die Museen, wie alle anderen Institutionen auch, derzeit eine Art Neuorientierung. Sobald Museen einmal ausbrechen aus ihrer Box, werden sie sehen, wie hilfreich die Box einst war. Wenn sie etwas in diese Box tun, erhält es eine Bedeutung. Wenn man den Tempel abreißt, untergräbt man in gewissem Maße auch seine Position. Angsichts der großen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, wird es nicht mehr nur darum gehen, über ein neues Museum nachzudenken, sondern die Gesellschaft und den Beruf des Architekten radikal neu auszurichten ...