THESE 3: Das Museum als Ort der Freiheit
András Szántó: Imagining the Future Museum. 21 Dialogues with Architects, Berlin 2022, S. 106-116.
Das Konzept “Archäologie der Zukunft”
András Szántó spricht mit Lina Ghotmeh von GAD, die das Estische Nationalmuseum in Tartu realisiert haben. Einleitend sprechen beide über die besondere Herangehensweise der Architektin, die sie als eine »Archäologie der Zukunft« bezeichnet. Ghotmeh ist in Beirut aufgewachsen, einer Stadt, die Kriege und Erdbeben erlitten hat, aber auch die Wiege verschiedener Zivilisationen ist. Die Architektin interessiert sich für die Geschichte als eine Wiederentdeckung von Artefakten, so wie sie Archäologen betreiben. Der Bezug zur Erde und zu dem, was unter der Erde liegt sind für sie wichtig. So kann Architektur zur »Heilung einer Landschaft« beitragen, die immer auch eine Heilung der Gemeinschaft meint, die dort lebt. Die Architektur sollte also dazu beitragen, dass Menschen wieder zusammenfinden.
Ein Beispiel liefert der Wettbewerbsbeitrag für ein Museum of Revolution of Dignity in Kiew, den die Architektin noch vor dem Krieg in der Ukraine einreicht. Dieses Museum sollte an die Ereignisse auf dem Maidan Platz erinnern. Es sollte aber nicht nur an die Vergangenheit erinnern, sondern - ganz im Sinne einer »Archäologie der Zukunft« die Gegenwart aktivieren und in die Zukunft vorausschauen. Wie kann man ein Museum zu einem lebendigen Ort der Erinnerung machen? Dadurch, dass man es zu einer Plattform macht, auf der sich Menschen treffen können, um von ihrer Vergangenheit zu erzählen, ihre Gegenwart zu leben und an ihrer Zukunft zu bauen. So kann das Museum zu einem kulturellen Inkubator werden für die Bevölkerung. Zur »Archäologie der Zukunft« gehört auch eine forschende Betrachtung der Typologie des Museums, die es der Architektin erlaubt, sich kritisch zu verorten, die Typologie neu zu denken und im Kontext des Wirtschaftssystems und der Kultur zu sehen, die sie hervorgebracht hat. Ghotmeh verweist auf ihre offene Erziehung, die sie hat reifen lassen im Bewusstsein, dass es für die Ausbildung zur Architektin auch Interessen an anderen Disziplinen braucht. Ihr Verständnis von einem Museum sieht sie als das Resultat dieses Reifungsprozesses, sodass das Museum selbst immer eine multidisziplinäre Angelegenheit ist und nie nur aus einer Perspektive heraus betrachtet werden kann. Museumsarchitektur als etwas Poröses, sie schafft immer offene Strukturen, die aktiv, lautstark und kritisch sind im Verhältnis zu Geschichte, Erinnerung, Menschen, Gesellschaft, Objekten.
In Ländern mit fehlenden staatlichen Strukturen (wie zB. dem Libanon) kann das Museum eine öffentliche Sphäre erzeugen, Menschen erleben dort bei aller Verschiedenheit ihrer Kulturen und Religionen ein Gefühl der Zugehörigkeit. Insbesondere an Orten mit einer schwierigen Geschichte oder fehlenden staatlichen Strukturen kann das Museum die Aufgabe einer öffentlichen Sphäre übernehmen. Museen können Botschafter der Welt sein, wo jeder ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Freiheit haben kann. Museen könnten auch Ort der Heilung sein, herausragende Orte für das Zusammensein von Menschen, wo Gemeinschaften über ihr Trauma sprechen können und sich versöhnen können mit ihrer Geschichte. Menschen müssen nach traumatischen Erfahrungen wieder zusammenfinden, deshalb werden Gemeinschaftsräume auch in Museeen immer wichtiger. Es braucht Räume, wo Menschen ihr Leid teilen können und sich Zeit nehmen können, um zu verstehen, was passiert ist.
Lina Ghometh sucht nach neuen Formen des Museums und auch der Ausstellung. Bei einem Projekt im Libanon hat sie sich von der traditionellen Galierie-Konzept gelöst, bei dem Einzelwerke an die Wand gehängt und in einer linearen Abfolge Narrative erzeugt werden. Stattdessen möchte sie den Besucher mit einem geöffneten Archiv des Museums selbst zum Kurator machen. Museen sollten Orte sein, wo wir an unsere Grenzen gehen können und das Gewöhnliche erhaben machen können. Trotzdem müssen Museen auch in die Gesellschaft integriert werden, jeder sollte sich darin wohl fühlen und nicht nur eine kleine Elite.